Annäherung

„Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß“, – schreibt Paulus – „damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes.“ Das ist zu steil für mich! „In allem… in Trübsal, Nöten, Ängsten, in Mühen, Schlägen, Gefängnissen, Verfolgungen“ und so weiter. Geht es Euch auch so? Vorbild hin – Vorbild her, ich gehe da lieber mit Martin Luther, der gesagt hat: Eventuell wird das Evangelium besser von „bösen Buben“ verkündigt als von einem Heiligen. Bei diesen „Lausbuben“ finden ich mich eher wieder. Und außerdem ist es ein Kennzeichen der evangelischen Glaubenslehre, dass die „Glaubwürdigkeit“ des Evangeliums eben nicht an der Glaubwürdigkeit des „Predigers“ hängt. Freilich, manchmal hilft’s ein wenig!

Zurück zum Text! Mir scheint (mich dünkt), wir sind auf einer ganz falschen Fährte. Ich glaube, Paulus will sich hier gar nicht als den heiligen Überapostel darstellen. Das ist gar nicht gemeint! Lesen wir genauer: Erstens: Paulus spricht überhaupt nicht von einem „Ich“, sondern im „Wir“, in der Mehrzahl, also von einer Gemeinschaft (zu der er gehört). Und zweitens: Paulus und seine Mitarbeiter*innen werden ständig angefeindet und bedrängt; sie werden nicht bewundert – auch nicht von den Korinthern. Und trotzdem haben sie eine innere Freude, die aber offensichtlich von woanders her kommt – nicht von den Menschen. „Als die Traurigen, aber allezeit fröhlich.“ „Sie haben nichts – und doch alles.“ Hier geht es um die empfangene Gnade Gottes.

Zwei Erwägungen mit Bild

I. Die „empfangene Gnade“

Im Bild:

Martin Luther gebraucht ein Bild dafür: Die Gnade – sie ist wie ein „fahrender Platzregen“, der sich über uns in einem Moment, im Jetzt, im „Jetzt ist die Zeit“, ereignet; ein „fahrender Platzregen“, der sich über uns ergießt. Ist der Wolkenbruch vorübergezogen, lässt er dort dennoch eine Wüste zurück, wo die Tropfen nicht ins Erdreich eingedrungen sind. Gottes Gnade ist keine Berieselungsanlage, die je nach Bedarf (etwa ab und zu sonntags) an- und abgestellt werden kann.

Ein Gnadenplatzregen voller Wassertropfen, das sind die Worte und Erfahrungen der Gnade, die unbedingte Zuwendung Gottes: Trotz allem, was uns trennt und zwischen uns tritt: Du bist versöhnt. Du bist begnadigt. Du bist frei. Du bist erlöst als Kind Gottes.

Im Bild:

Dieses Wort der Gnade, diese Gnadenzusage, ist für mich auch wie ein bergender Raum, in den ich hineinkriechen kann. Es ist so, wie mit jenen Höhlen, die wir als Kinder gebaut haben, aus Stühlen, Kissen, Decken und Kisten. Eine bergende Höhle mitten im Kinderzimmer. Ihr erinnert euch bestimmt noch…. Eine bergende, schützende Höhle – so ist auch das Wort der Gnade. Es zu hören, als für mich gesprochen, jetzt und hier, das heißt, in es hineinzukriechen, wie in einen bergenden Raum. „Siehe jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils.“

Und wenn wir uns in dieser Gnadenzusage bergen, dann war es auch nicht vergeblich, was uns widerfahren ist. Vergeblich dagegen: Das hieße, hektisch und unruhig, oder deprimiert und verzweifelt weiter zu suchen, weiter und weiter: „Wo darf ich mich nur bergen? Wo finde ich Halt? Wer meint mich wirklich? Die Stürme des Alltags treiben mich hin und her. Trübsal, Nöte, Ängste werden übermächtig…“ Vergeblich: d.h.: das zugesprochene Wort, das wie ein wohltuender Sommerplatzregen über mich kam, fließt ab. Der es aber aufnimmt, in dem verwandelt es sich in Kraft. Es verwandelt sich in eine Kraft, die in den vielen Anfechtungen, die Paulus hier aufzählt, Gewissheit schenkt – jenen bergenden Halt.

Und was bedeutet dies? Heißt es, in Zukunft nur noch siegreich durchs Leben zu gehen? Von einem Erfolg zum nächsten? Mitnichten! „Wer spricht von Siegen? Überstehen ist alles.“ So sagt es der Dichter Rainer Maria Rilke. Oder habt Ihr den Eindruck, wenn Ihr diese Worte [Betrachtungstext] meditiert, hier springt einer händeklatschend umher oder stolziert mit geschwellter Brust durchs Leben? Nein. „Als die Sterbenden – und siehe wir leben.“

II. Im „WIR“ wird es konkret

Paulus redet in der Mehrzahl. Und dieses „Wir“ ist keine rhetorische Floskel. Paulus hat keine Scheu an anderer Stelle von sich als Einzelperson zu sprechen. Aber hier sieht er sich als Teil einer Gemeinschaft: „Wir erweisen uns als Diener Gottes.“ Was verändert sich denn, wenn man von einer Gemeinschaft her denkt und nicht von isolierten Einzelnen? „Trübsal, Ängste, Nöte, Verfolgungen…“ – was verändert sich in diesen Anfechtungen, wenn nicht ein/e Einzelne/r sie erleidet, sondern eine Gruppe, eine Gemeinschaft? Werden die Lasten nur verteilt? Oder: „Geteiltes Leid ist halbes Leid?“ Solche und ähnliche Sprüche bleiben an der Oberfläche. Sie treffen m.E. noch nicht den Kern, denn es handelt sich hier um ein geistliches Geschehen:

Seit einigen Jahrzehnten geistern vier Worte von Dietrich Bonhoeffer in den Köpfen vieler Christen herum: „Christus als Gemeinde existierend.“ Es heißt nicht: Christus in der Gemeinde, sondern Christus als Gemeinde. Das ist eine zutiefst paulinische Einsicht. Der lebendige Christus ist nicht ein Zusatz, oder ein Teil der christlichen Gemeinde, sondern er ist Gemeinde. (Hier unterscheidet sich Paulus 1. Kor 12, 27 von dem Pseudopaulinen Eph 4, 15.)

Das mag dir fremd vorkommen. „Christus als Gemeinde existierend“ – das bedeutet dann: wenn ein Neuer, ein Fremder hereinkommt, mit uns spricht, mit uns feiert, uns als Gemeinschaft kennenlernt, dann hat er die Möglichkeit, Christus kennenzulernen. „Komm und sieh“ sollten wir zu ihm sagen – und er kam, sah und begann (vielleicht) zu glauben, weil er „die Herrlichkeit Gottes sah.“ (vgl. Joh 1, 14.51) Nicht ohne Grund finden wir auch in unserem Text gleich drei Mal dieses „Siehe!“ Also an den konkreten Menschen, an Paulus zusammen mit seinen Mitarbeiter*innen, soll etwas anschaubar werden. An uns als Gemeinschaft soll Christus erlebbar werden. Manch einer mag daran zweifeln.

Ich meine, diese Zweifel sind berechtigt – aber nicht etwa, weil es bei uns besonders unchristlich zuginge. Nein! Sondern weil diese Zweifel etwas Heilsames haben: Wie soll das zugehen? Christus in unserer Gemeinschaft erkennen? Diese Frage ist heilsam, weil sie Ansporn ist. Und genau dazu will Paulus auch aufrütteln, wenn er im ersten Satz sagt: „Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt.“ Das heißt: die empfangene Gnade soll in der Gemeinde sichtbar werden, erlebbar werden. In dem Dienst, im Dienen der Gemeinde wird Christus sichtbar – ansonsten war alles vergeblich. „Hier und jetzt seid ihr frei, freigesprochen zu handeln, also tut es auch – auch gegen Widerstände. Ihr seid befreit von der lähmenden Angst, scheitern zu müssen, befreit zum Handeln. Also handelt gefälligst! Ihr seid das Licht, als leuchtet und versteckt das Licht nicht.“

Die Worte des Paulus sollen nicht beruhigen, sondern sie sind eher eine Art Mahnschreiben. Etwas peinlich berührt erkenne ich daraufhin: Von der Gnade habe ich mich gerne berieseln lassen – aber nun soll es auch Gestalt gewinnen. Die Gnadenhöhle birgt mich! Das ist schön. Aber die Gnade ist keine reine Kuschelecke. Nun soll es sich erweisen, welcher Geist hier weht, ob die Liebe lau ist oder ungefärbt. Nun soll es sich erweisen, ob der Gnadenspruch zur Kraft wird, zu einer Kraft, die Gemeinschaft gestaltet.

Hartmut Friebolin (*1969) stammt aus der Evangelischen Jugendarbeit in Heidelberg. Nach dem Zivildienst studierte er mit viel Leidenschaft Theologie (Göttingen, Edinburgh und Heidelberg). Er gehört seit 1992 zur Geschwisterschaft Koinonia. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne, war ca. 20 Jahre Gemeindepfarrer. Jetzt ist er Religionslehrer und Beauftragter der Badischen Landeskirche für Soziale Medien.

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