Ankommen in Gottes Gegenwart

Ich nehme mich wahr, wie ich vor Gott da bin, indem ich spüre, wie ich mich in den Raum seiner Gegenwart hinein atme.

Ich werde mir bewusst, wo ich gerade bin: an diesem Ort, in diesem Haus, in diesem Zimmer. Mein innerer Blick geht weiter und schweift über die Landschaften und Länder der Erde, und diese Erde nehme ich als einen Teil des ganzen Kosmos wahr (vgl. V. 4+5). Er ist Gottes Schöpfung und deswegen nicht dem Zufall ausgeliefert. So ist es auch kein Zufall, dass ich mich jetzt hier an diesem Ort und zu dieser Zeit, am Schnittpunkt von Geworden-Sein und Noch-nicht-Sein befinde. Ich erlebe mich einerseits festgelegt durch die Grenzen dieses Ortes, an dem ich lebe und die Grenzen dieser Zeit, in der ich lebe. Andererseits erlebe ich aber auch, dass ich als ein Teil einbezogen bin in die Weite der Schöpfung Gottes. Er will, dass ich hier bin.

Zeit des Schauens

Gott sieht seinen Knecht mit „Wohlgefallen“ an. Dieser liebevolle Blick sagt: „Du gefällst mir so sehr. Wie schön, dass Du da bist.“ Es ist ein Blick, wie wenn Eltern auf ihr neugeborenes Kind schauen. Zuspruch, Zärtlichkeit, Zuversicht und Hoffnung liegen in diesem Blick, auch wenn sie nicht direkt aussprechen, was in ihrer Seele und mit ihnen vorgeht.

So ist es auch mit Gott. Wir dürfen hier in dem Augenblick in seine Seele schauen, in dem er seinen geliebten Knecht anschaut. Er sieht vor seinem inneren Auge die Zukunft seines Knechtes und die Hoffnung, die er mit ihm für Israel und die ganze Welt verbindet.
Ich verweile vor dem Bild, bis mich die Innigkeit dieses Verhältnisses ergreift.

Zeit des Verstehens

Die Beziehung zwischen Gott und seinem Knecht ist nicht von Herrschaft und Unterwürfigkeit geprägt, sondern von gegenseitiger Verbundenheit. Ohne den Knecht könnte Gott sein Wesen seinem Volk nicht vermitteln, der Knecht aber fände ohne den Herrn nicht zu seiner Aufgabe und zu seiner Bestimmung. Es ist nun nicht etwas Zusätzliches zu diesem Verhältnis, was Gott als Wahrheit durch seinen Knecht der ganzen Welt mitteilen möchte. Seine Wahrheit ist seine Liebe. Sie besteht darin, dass jeder Einzelne sich so angeschaut erfährt wie der Knecht von seinem Herrn. Diese Zuwendung gerade zu dem Schwächsten und Unscheinbarsten (vgl. V. 3,6+7) lässt den glimmenden Docht zum Beginn eines Leuchtens werden, das sich bis an die „fernsten Gestade“ der Erde ausbreitet. Sie ist zart und kraftvoll zugleich, wie nur die Liebe selbst sein kann. Sie spricht für sich selbst und bedarf keiner Gewalt oder werbenden Manipulation, um zum Ziel zu kommen.

Matthäus hat diese Verse, die sich bei dem Propheten Jesaja auf die Hoffnung beziehen und auf den Perserkönig Cyrus gerichtet waren, auf Christus übertragen (vgl. Mt 12,18-21). In seiner Nachfolge sind wir in dieses innige Verhältnis zu Gott, unserem Herrn, hineingerufen. Ich denke über meinen Platz in diesem universalen Geschehen nach und suche dabei immer wieder den zärtlich liebenden Blick Gottes, der mit „Wohlgefallen“ auf mir ruht.

Zeit des Herzens

Drängt sich mir jetzt etwas auf, was sich in mir selbst oder bei anderen Menschen wie ein glimmender Docht oder ein geknicktes Rohr „anfühlt“? Ich überlasse es Gott im Gebet. Ich schaue auf seine behutsame Achtsamkeit, mit der er sich dem zuwendet, was ich für verloren hielt. Ich bitte darum, dass diese Achtsamkeit auf mich übergeht und meinen Blick und meine Einstellung verändert.

Ich lasse mich noch einmal aus einer anderen Perspektive anregen, die Wahrheit dieser Verse zu bedenken, indem ich nach Beispielen in der Geschichte oder Gegenwart suche, die diese Verse für mich anschaulich werden lassen, oder ich lese zum Abschluss der Betrachtung oder am Ende des Tages die Ballade von B. Brecht „Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“.

Gesa Schubert lebt in Hannover. Sie war Studienrätin für die Fächer Deutsch und Religion.

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