Zeit in Gottes Gegenwart

Zur Einstimmung und Vorbereitung höre ich eine Magnifikat-Vertonung (diese gibt es von zahllosen Komponist:innen, vokal und instrumental), am besten eine, die ich bereits kenne und schätze. Ich lasse mich auf die Musik ein, ich überlasse mich der Freude über Gottes „Umsturz“ der Verhältnisse, der gewohnten Regeln, der scheinbar so unumstößlichen Weltordnung von „oben“ und „unten“.

Eine andere Möglichkeit: Ich kann aus meiner Lebensgeschichte Ereignisse ins Gedächtnis rufen, in denen ich mich durch etwas Großes überrascht, möglicherweise sogar überrumpelt fühlte. Oder habe ich einmal eine unerwartete Ehre, eine öffentliche Wertschätzung erhalten, die ich nicht für möglich hielt – vielleicht war es eine Aufgabe, eine Herausforderung, eine Zumutung, die mich zunächst erschreckt hat, dann aber freute und stolz machte? Ich gehe in diese Situation zurück und versuche, meine Gefühle dabei nochmals zu erleben.

Zeit des Hörens und Schauens

Hierfür möchte ich zwei Wege vorschlagen:

Ich lese den Text langsam und aufmerksam, und begebe mich dabei in die Rolle eines Zuschauers, erlebe die Szene so sinnlich deutlich wie möglich. Ich kann mich dabei für einen Teil des Textes entscheiden: Entweder ich erlebe die Szene der Verkündigung der Geburt Jesu durch den Erzengel Gabriel an Maria mit, oder den zweiten Teil mit der Begrüßung von Maria und Elisabeth mit Marias Lobgesang. Wenn ich mir die Zeit nehme, kann ich natürlich auch beide Szenen hintereinander miterleben.

Eine andere Möglichkeit ist, mich in eine aktive Zuhörerrolle zu begeben*: Ich stelle mir in meiner Phantasie möglichst lebendig vor, Maria in ihrem Haus in Nazareth zu besuchen. Dies kann kurz nach Ende der Geschichte sein, die der Text erzählt, oder zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt ihres Lebens. Ich begrüße sie, stelle mich vor und bitte sie, mir vom Besuch des Engels Gabriel zu erzählen.

Nun lese ich den Text wieder langsam und aufmerksam, aber so, als ob ihn mir Maria als ihr Erlebnis berichtet, also in der Ich-Form. Dabei stelle ich mich ganz auf sie ein, versuche zu empfinden, was sie in der Situation gefühlt haben mag. Wenn ich mehr wissen möchte, darf ich sie unterbrechen und nachfragen. Wenn sie andere Stellen aus der Schrift zitiert (oft durch Fußnoten angezeigt), kann ich diese nachschlagen und dann wieder ins Gespräch mit ihr zurück kehren. Dabei achte ich nicht nur darauf, was sie erzählt, sondern auch wie sie es tut.

Am Ende der Betrachtungszeit, wenn Maria ihren Bericht abgeschlossen hat und ich alle Fragen mit ihr besprechen konnte, verabschiede ich mich wieder – wie nach einer gewöhnlichen, persönlichen Begegnung. Vielleicht verabrede ich ein Wiedersehen…

Zeit des Verstehens

Ich versuche, das Geschaute und Gehörte zu durchdringen und Maria in dem Prozess der „Heimsuchung Mariens“, wie diese Geschichte in der Tradition überschrieben wird, zu begleiten: Die Bewegung vom Erschrecken – Erstaunen – (Ver-)Zweifeln –Annehmen – Loslassen – Loben. Bei welcher dieser Bewegungen und Emotionen möchte ich länger verweilen?
Evangelischen Christ:innen ist Maria als Vorbild oder Gegenüber eher fremd, hier gibt es sicher Neues zu entdecken. Wo kann ich andererseits, z.B. als katholische Christ:in, an die Tradition der Marienfrömmigkeit, wie ich sie kenne, anknüpfen? ­– Oder will ich mich einmal von diesen Bildern lösen und der Maria, von der in der Bibel berichtet wird, als schlichtes Vorbild für meinen Glauben näher kommen?

Beim Blick auf das Weltgeschehen oder aus eigenem Erleben des Bedrängt-Werdens kann in mir die Sehnsucht erwachen, dass Gott endlich die „Kleinen“ groß und die „Großen“, die Gewalttätigen klein macht. Kann ich mich der Sicht Marias anschließen, dass Gott dies bereits getan hat? Wie kann ich glauben, dass Gott dies heute noch tut und immer wieder tun wird?

Zeit des Herzens: Einübung in die Hingabe

Habe ich einmal einen Ruf gehört: In die Nachfolge, zu einem besonderen Dienst, eine Berufung, die alles auf den Kopf stellt? Wie habe ich dabei reagiert? Wie klingen die Worte Marias zum Engel, wenn ich sie auf diesem Hintergrund höre?

Befinde ich mich gerade in einer Situation, die ich als Zumutung, als „Heimsuchung“ erlebe, und doch gleichzeitig spüre, dass sie „richtig“ ist? Wie kann mir Maria hier ein Vorbild sein, ein „Ja“ zu dieser Situation zu finden? Inwiefern hilft der Gedanke an Maria mir dabei, die Verfügung über mich, mein Geld, meine Zeit, meine eigenen Pläne loslassen? Wie könnte mich die Erzählung von Maria in meinem Wunsch nach größerer Hingabe stärken?

Maria wird ins Gotteslob geführt. Dies geschieht nach der Überlieferung nicht sofort, sondern nach einem inneren Prozess. Sie bedient sich dabei der Worte ihrer Bibel, unseres alten Testaments (der Propheten, der Psalmisten). Auch ich kann mich anregen lassen durch Worte der Bibel, durch Musik, durch Werke der Malerei, der bildenden Kunst – ganz besonders aber durch die Spuren von Gottes Wirken, die ich in meinem Leben entdecke: „Denn er hat große Dinge an mir getan“.

* Diese Form der Schriftmeditation ist der „Kontemplativen Schriftlesung“ entlehnt. Eine kurze Anleitung hierzu gibt hier Pater Dr. Wilfried Dettling, SJ: https://www.youtube.com/watch?v=9lXF3nxvIYc

Burkhard Jabs

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