Hinführung

Einen überaus vertrauten Text für sich selber wieder lebendig werden zu lassen, ist nicht leicht. In gesteigertem Maße bedarf es der Offenheit, Neues zu entdecken. Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter (Verse 30-35) ist bei Lukas eng mit dem Kontext verzahnt, und zwar in beide Richtungen: mit den vorangehenden Versen als Beispielgeschichte für das Gebot der Nächstenliebe (V. 27); nach hinten als Korrektiv und Ergänzung zur Geschichte von Maria und Martha (Verse 38-42). Vermutlich ist die sich von ganzem Herzen hingebende Maria hier bei Lukas als Versinnbildlichung für den ersten Teil des Doppelgebots der Liebe zu verstehen (V. 27a). Beide Geschichten ergänzen und korrigieren sich also wechselseitig. Es würde sich lohnen, einen Stillen Tag (Wüstentag) dafür zu nutzen, diesem Wechselspiel nachzugehen und Gottes Willen immer mehr als Einheit zu erkennen.

Bild

Neben dem Priester und dem Leviten, die aufgrund ritueller Reinheitsgebote den blutenden Fremden meiden, stellt uns Jesus diesen „Fremden“, einen Samariter, als Vorbild vor Augen. Mit ihm können und sollen wir uns identifizieren. Er ist im Sinne Jesu zum „Nächsten“ geworden (vgl. den Perspektivwechsel in V. 36). Alles beginnt mit dem Gehen und dem Sehen, dem rechten Sehen. Der Priester sieht und geht vorüber (V. 31). Der Levit kommt und sieht – und geht vorüber (V. 32). Der Samariter kommt und sieht und „er jammert ihn“ (V. 33). So übersetzt es Martin Luther. Vom Griechischen her meint das: Es geht ihm durch alle Eingeweide (vgl. auch Lk 15,20 und Mt 9,36). Das heißt, er lässt sich im Herzen von dem Gesehenen anrühren, in Bewegung versetzen. Es ist nun m.E. der Betrachtung wert, die Verse 34 und 35 in aller Ruhe, Schritt für Schritt, Wort für Wort nach- und mitzuvollziehen, bei jeder Handlung in ihrer „Herzlichkeit“ zu verweilen.

Erwägung

Was für den Priester und den Leviten die Reinheitsgebote waren, das ist wohl für uns heute das Diktat der Zeit. „Ich habe keine Zeit!“ Wer diese Begründung zu hören bekommt, akzeptiert sie meist, ohne weiter nachzufragen. Obgleich die Devise „keine Zeit“ oftmals eher der Imagepflege dient als dem Bedauern. Zeitnotstand gilt noch immer als chic. Der Samariter aber nimmt sich Zeit. Er hat Zeit. Er lässt nicht die Zeit über sich herrschen. Er hat sie und nicht sie ihn. Die Verse 33 bis 35 laden gerade dazu ein, dies wieder neu zu entdecken, dass Gott der Herr ist, auch über die Zeit – und nicht umgekehrt.

Konkretion

Und wer dann konkret wird, wer sein Leben nach Gottes Willen diakonisch (und auch kontemplativ) gestalten will, der folge den Verben, mit denen das Tun des Samariters beschrieben wird: sich aufmachen (zu den Orten der Not); hinsehen (auf das Leiden); sich jammern lassen (sich berühren und innerlich verwandeln lassen); hingehen (die Nähe und Gemeinschaft mit den Opfern suchen); Öl und Wein auf die Wunden gießen (das Beste teilen); verbinden (die akute Not lindern); auf sein Fahrzeug heben usw. Solche konkrete Selbstvergessenheit nennt der christliche Glaube Nächstenliebe. Mit ihr wird auch die Liebe von und zu Gott wieder lebendig.

Hartmut Friebolin (*1969) stammt aus der Evangelischen Jugendarbeit in Heidelberg. Nach dem Zivildienst studierte er mit viel Leidenschaft Theologie (Göttingen, Edinburgh und Heidelberg). Er gehört seit 1992 zur Geschwisterschaft Koinonia. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne, war ca. 20 Jahre Gemeindepfarrer. Jetzt ist er Religionslehrer und Beauftragter der Badischen Landeskirche für Soziale Medien.

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