Foto: Traudl Priller

Loslassen

Wir nehmen unsere Bibel zur Hand und verfolgen in wenigen Zügen den roten Faden, der in den Versen vorher zu unserem Text hinführt. In Lk 10, 27 finden wir das Doppelgebot der Liebe. Die dort in ein Gebot gefasste Liebe zum Nächsten wird von Jesus konkretisiert in der Beispielgeschichte vom Barmherzigen Samariter (10, 30-37), die Liebe zu Gott zeigt sich im vorbildhaften Tun der Maria (10, 38-42). Das Hören vor Gott findet sodann Worte: Die Jünger lernen und üben das Beten (11,1) mit den von Jesus geliehenen Worten des Vater Unser. Aber die Gebetsschule Jesu geht noch weiter. Jesus hilft den Jüngern und damit uns, zu klären, in welcher Erwartungshaltung wir vor Gott treten können und sollen. Was erwarten wir jetzt vom betrachtenden Gebet? Was erwarten wir von Gott?

Bild

Es ist ein sonderbares Freundschaftsideal, ein Freundschaftsbild, das uns Jesus hier vor Augen malt: Der eine Freund kommt unerwartet, auf der Durchreise (11,6) auf einen kurzen Besuch vorbei. Aber es gibt nichts, was der staunende und doch sicher erfreute Besuchte anzubieten hätte. Und Gastfreundschaft war damals ein sehr hohes Gut (vgl. 10,40). Da kommt der nächste Freund ins Spiel, er wird mitten in der Nacht bedrängt. Er liegt schon im Bett, seine ganze Familie (11,7) ruht.

Malen wir uns diese Szene aus, die dunkle Nacht, kühl und erfrischend, der müde Gast, der im Haus des Freundes wartet, dessen hungriger Magen knurrt, das freudig pochende Herz des Klopfenden, der ruft, um gehört zu werden mit seinem Anliegen. Was verbindet diese Freunde? Da ist diese scheinbar undurchdringliche Türe, wie klingt sie, wenn man daran klopft? Zu dem Freundschaftsbild gehört weiterhin die Gewissheit, auch in dunkler Nacht beim Freund Brot zu bekommen. Seltsam ernüchternd ist nun Jesu Beispielerzählung: Der besuchte Freund hat nichts zu geben und der freundliche Nachbar will nicht öffnen (11,7 „Mach mir keine Unruhe!“, heute sagt man: „Mach mir kein‘ Stress!“).

Jesus überschreitet nun das Freundschaftsideal (11,8): Wenn schon nicht Freundschaft „trägt“, dann wird doch das unverschämte Drängen zum Ziel führen. Das, was wir von einem guten Freund schon nicht mehr erwarten können, weil es an Unverschämtheit grenzt, das können wir von Gott allemal erwarten (vgl. 11,3): Gott ist sogar mehr als ein guter Freund/ eine gute Freundin: Auch in der dunklen Nacht steht Gott auf und öffnet uns die Türe von innen. Bei diesem – wie ich finde – starken Bild können wir verweilen.

Erwägungen

1. Wir in der Geschwisterschaft Koinonia haben/hatten ein hohes Freundschaftsideal, vielleicht ab und zu ein zu hohes Ideal, so dass wir vom Bruder oder der Schwester das erwarten, was eigentlich unverschämt ist, weil nur Gott es geben kann. Es ist für uns wichtig, uns immer wieder daran zu erinnern, dass eine Geschwisterschaft kein Freundschaftsbund ist, sondern dass auch Freundschaften an ihre Grenzen stoßen dürfen. Das gilt auch für Bibelkreise, Hauskreise und andere Gruppen in der christlichen Gemeinde. Entscheidend ist, dass damit Gemeinschaft noch nicht beendet sein muss, sondern dass wir gemeinsam zu Gott gehen können, anklopfen können in der gewissen Erwartung, dass er auftun wird und uns geben wird (11,9f), was wir mit aufrichtigem, Herzen (leeren Händen) von ihm erbitten.

2. Jesus lädt uns ein, mit seinen Jüngern in seiner Gebetsschule zu üben, die eigene Erwartungshaltung (an sich, an die Geschwister und an Gott) zu klären. Unser Gebet mag dabei von der Wiederholung geliehener Worte über das betrachtende Gebet und die stammelnde Zwiesprache (Bitten) bis zu jener Grenze gelangen, wo nicht mehr wir es sind, die beten, sondern, wo der geschenkte Geist (Lk 11,13) selbst anbetet, in uns zu beten beginnt mit „unaussprechlichem Seufzen“ (Röm 8,26: „Denn wir wissen nicht, wie wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“) Es ist das nicht aufzulösende Geheimnis des Gebets, dass es zugleich ein Tun und ein Erleiden, eine Übung und ein Widerfahrnis ist.

Konkretionen

Zu wem gehen wir in der dunklen Nacht (unserer Seele)? Kommen wir mit leeren Händen? Was erwarten wir – oder wie klopfen wir an die Türe? Für wen möchten wir bei Gott immer wieder anklopfen? Haben wir schon einmal diese Erfahrung gemacht, dass es (er, der Heilige Geist) in uns betet?

Hartmut Friebolin (*1969) stammt aus der Evangelischen Jugendarbeit in Heidelberg. Nach dem Zivildienst studierte er mit viel Leidenschaft Theologie (Göttingen, Edinburgh und Heidelberg). Er gehört seit 1992 zur Geschwisterschaft Koinonia. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne, war ca. 20 Jahre Gemeindepfarrer. Jetzt ist er Religionslehrer und Beauftragter der Badischen Landeskirche für Soziale Medien.

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