Hinführung

Am Altjahresabend schauen wir zurück auf unser Leben: Was ist gelungen, was nicht? Wie soll es weitergehen? Dabei kann uns das Gleichnis vom „Unkraut unter dem Weizen“ helfen, barmherzig und geduldig mit sich selbst und mit den anderen umzugehen. In meinem ehemaligen Karlsruher Hauskreis wurde eine junge Krankenschwester nicht müde zu betonen: „Aber das Bild hinkt doch! Der Weizen ist eben Weizen, und das Unkraut ist Unkraut. Bei uns ist das doch anders: Wir können uns verändern. Wir sind nicht auf ewig festgelegt, Unkraut zu bleiben.“ Ja, da hat sie Recht. Wir Menschen können verändert werden. In biblischer Sprache heißt das Verwandlung oder Umkehr. Gerade weil wir um diese Möglichkeit wissen, liegt die Pointe dieses Gleichnisses auch nicht in einer verurteilenden Klassifizierung der Menschen, sondern in dem liebenden geduldigen Blick Gottes.

Bild

Der Taumelloch (Das ist eine falsche Weizenart, die erst während ihres Wachstums zeigt, dass sie gar kein Weizen ist) und der Weizen sind schon ein gutes Stück gewachsen. Da entdecken die Wachsamen das Unkraut. Die Verwunderung ist groß (V.27), und es wird nach dem Schuldigen gesucht. Was unrein ist, nicht passt, das soll ausgemerzt werden (V.28). Das klare Nein (V.29) des Hausvaters bildet sicherlich den Höhepunkt unseres Betrachtungstextes. „. . . damit ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft“, ist seine Begründung.
An dieser Stelle kann unsere Betrachtung beginnen: Der Blick der Knechte war ein unterscheidendes Schauen von oben, quasi aus der Vogelperspektive. Es ist der Blick kritisch Distanzierter: Da steht ein Halm neben dem anderen. Da wachsen grüne Stängel, und ab einem bestimmten Zeitpunkt ist klar, was daraus werden wird. Und auch die Leuchtkraft des Mohns kann dann nicht mehr betören. Da wird es eindeutig, was Unkraut ist und was Weizen.

Folgen wir aber dem Hausvater, so wird unser Blick auf einen Bereich gelenkt, der dem normalen Auge nicht sogleich zugänglich ist. Es ist ein geradezu mystisches Schauen. Denn dieses geht unter die Erde, sieht die Wirklichkeit, die Im Verborgenen bleibt. Wir verlassen die richterliche Vogelperspektive, die zu erkennen meint, was „vom Teufel“ ist, und nehmen wahr, was unser Leben zutiefst kennzeichnet: Da, wo die Wurzeln wachsen, wo die Lebensadern fließen, da ist alles nicht mehr so klar auf den Feldern: Die fein verästelten Wurzeln der verschiedenen Pflanzen sind ineinander verflochten, verzahnt, verwickelt und sehen sich sehr ähnlich. Die Lebensgeschichten sind so ineinander verwickelt, dass der Versuch, ein Kraut zu entfernen, viele andere in Mitleidenschaft ziehen würde. Das „Nein!“ des Hausvaters kann uns nur plausibel werden, wenn wir jenes neue Sehen einüben.

Erwägungen

Was unrein ist, nicht passt – das soll ausgemerzt werden. „Säuberungen“, so hießen diese heillosen Aktionen. „Was rein ist, muss rein bleiben! Da kommt was hoch, wird was groß, was nicht sein darf. Unnütz ist es. Es stiehlt Raum, klaut Nahrung.“ Die Knechte wollen „ausradieren, von Grund auf ausradieren!“ Man könnte es auch „Abschieben“ nennen. Aber das alles wird nicht geduldet. Der Besitzer des Landes widerspricht den Knechten. Stattdessen heißt es: „Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte“ (V.30). Dieser Hausvater kann warten, er hat Geduld. Er hat Zeit. Wir kennen diesen Hausvater aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. Er wartet, hat Geduld. Er duldet. Lässt zu, wo die Knechte „ausradieren“ und „abschieben“ wollen. Was für ein Hausvater! Großherzig ist das. Da ist die Pointe, die Spitze unseres Gleichnisses: Der geduldige Hausvater, an dem wir uns ein Beispiel nehmen sollen. Doch seinen Grund hat dies in dem neuen Sehen.

Freilich, er ist auch „Herr“. Er hat auch die Macht – die absolute Macht, die uns verunsichert, ja vielleicht sogar Angst macht. Am Ende wird es klar, da wird unterschieden, was vom Bösen ist und was vom Guten. Der Apostel Paulus bezieht diesen letzten Klärungsprozess auf unser Tun und Handeln. „Der Tag des Gerichts wird’s klar machen“ – so heißt es bei Paulus. „Wie durchs Feuer hindurch“ wird geprüft ob etwas Bestand hat. Die Pointe bei Paulus ist, dass unsere Werke, unser Tun geprüft wird. Wir als Personen, als Menschen, als Kinder Gottes aber werden gerettet werden– „doch so, wie durchs Feuer hindurch“ (1.Kor 3,13 ff). Aber über unser Lebenswerk, unser Tun wird geurteilt.

Der Hausvater hat die Macht, dies zu klären. Er hat sie. Und ich bin froh, dass er sie hat – und nicht wir. Gott hat sie, und nur er darf sie haben. Und er übt diese Macht jetzt noch nicht aus – das ist das andere. Erst am Ende wird es sein, am Ende, ganz am Ende wird es erst sichtbar – nicht heute, nicht jetzt. Und genau das sagt auch der Hausvater zu den Knechten: „Wartet, jetzt ist nicht der Augenblick der Scheidung. Jetzt ist noch nicht die Zeit dafür. Lasst sie alle stehen!“ Wir sehen hier den Vater Jesu Christi: „Gott, barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte.“ Er wartet, er wartet auf den verlorenen Sohn, er wartet immer noch auf den zweiten Sohn, der unzufrieden und mürrisch zu Hause geblieben ist. Das ist kein gleichgültiges Warten, sondern ein sehnsüchtiges, ein leidenschaftliches Warten.

Konkretion

Man übe sich im geduldigen, tiefgründigen Betrachten (mystischen Sehen) der Menschen im eigenen Umfeld, der Menschen, die wir vielleicht abgeschrieben haben. Und ebenso der geduldige Blick auf die eigene Seele und wie Gutes und vielleicht Ungutes ineinander verwoben sind.

Hartmut Friebolin (*1969) stammt aus der Evangelischen Jugendarbeit in Heidelberg. Nach dem Zivildienst studierte er mit viel Leidenschaft Theologie (Göttingen, Edinburgh und Heidelberg). Er gehört seit 1992 zur Geschwisterschaft Koinonia. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne, war ca. 20 Jahre Gemeindepfarrer. Jetzt ist er Religionslehrer und Beauftragter der Badischen Landeskirche für Soziale Medien.

Als PDF herunterladen

Anstehende Veranstaltungen