Ankommen

Ich nehme Platz an einem Ort, an dem ich zur Ruhe kommen kann.

Ich komme bei mir selbst an und höre meinen inneren Gedanken und Gefühlen zu: Was höre ich da gerade? Was bewegt mich noch aus Situationen und Begegnungen dieses Tages?

Ich atme ein und wieder aus, ich atme langsam auf.

Betrachtendes Beten ist wie eine Chance auf ein Wort, das mich bewegen, treffen, ermutigen kann. Im Beten gebe ich Gott die Chance, dass er ein Wort für mich hat.

Der Bibeltext für den kommenden Sonntag und für die heutige Betrachtung ist die Begegnung Jesu mit dem Hauptmann von Kapernaum, wie sie im Matthäusevangelium überliefert ist.

Hinschauen

In der Geschichte wird die Begegnung Jesu mit einem römischen Hauptmann in der Stadt Kapernaum erzählt. Dieser römische Hauptmann hat bereits von Jesus gehört, da Jesus seit einiger Zeit öffentlich auftritt. Er begeistert viele Menschen durch seine Lehre und die Heilung von Kranken. Ein junger Bursche im Haushalt des Hauptmanns ist schwer erkrankt. Der Hauptmann wendet sich in seiner Not an Jesus, geht in aller Öffentlichkeit auf ihn zu und bittet ihn darum, seinen „Burschen“ zu heilen.

Er geht diesen Schritt mit großem Zutrauen und trotz der bestehenden Distanz zwischen ihm als hochrangigem Vertreter der militärischen Besatzungsmacht und einem jüdischen Religionsgelehrten. Der Hauptmann erwartet dabei nicht, dass Jesus die bestehende Trennung durchbricht: „Herr, ich bin nicht genug, dass du unter mein Dach kommst“. Aber er rechnet fest damit, dass Jesus auf dem Gebiet der Heilung eine solche Befehlsmacht besitzt, wie er selbst in der militärischen Hierarchie. So geschieht die Heilung des Burschen aus der Distanz, allein aufgrund des Zutrauens des Hauptmanns und der Zusage Jesu.

Jesus staunt über diese Haltung des Hauptmanns, dieses Zutrauen trotz bestehender Distanz. Dieses Erleben inspiriert Jesus. Er staunt darüber, dass ausgerechnet einer, dem der jüdische Glaube fremd ist, so großen Glauben hat. So kann Jesus sich vorstellen, wie im Reich Gottes die Trennung zwischen unterschiedlichen Glaubenstraditionen und Kulturkreisen aufgehoben sein wird und es eine Tischgemeinschaft unter einem gemeinsamen Dach geben wird.

Verweilen

Eine Miniaturzeichnung im Codex Egberti aus 10. Jahrhundert illustriert diese biblische Geschichte sehr schön: Wir sehen hier einen Hauptmann, in standesgemäßer Bekleidung und würdevoller Haltung, der sich Jesus zuwendet. Er tritt aus den ihm untergebenen Soldaten hervor. Er richtet seine Augen auf Jesus. Die Hand ist geöffnet und Jesus entgegengestreckt.

Auf der anderen Seite steht die Gruppe der Jesusjünger, mit abweisender Handhaltung und einer Schriftrolle fest in der Hand. Die vier Jünger stehen dem Hauptmann und seinen vier Soldaten gegenüber.

Jesus steht dazwischen, eher zur Seite der Jünger gehörend und nicht genau in der Mitte stehend. Aber er tritt weiter aus der Gruppe der Jünger heraus in Richtung des Hauptmanns. Er kommt dem Hauptmann entgegen, aber wahrt doch eine Distanz zu ihm. Die Distanz zum Hauptmann ist größer als die zu seinen Jüngern. Er hält ein Buch im Arm. Dieses Buch und seine seitlich gerichteten Arme bilden exakt die Bildmitte. Anders als die Schriftrolle bei den Jüngern stellt das Buch eine verbindende Mitte zwischen den beiden Gruppen her.

Mit langem Finger zeigt Jesus auf den Hauptmann, sein Blick jedoch ist den Jüngern zugewandt, als wollte er sagen: Schaut hin, sehet, was hier geschieht. Gottes Reich bringt Heilung und Heil, es verbindet Menschen unterschiedlicher Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit. Gottes Reich wird Menschen unter einem Dach und an einem Tisch vereinen.

Bedenken

(Noch) kein gemeinsames Dach

In der Erzählung im Matthäusevangelium wird die Distanz zwischen Jesus als Juden und dem Hauptmann als Heiden gewahrt, und zwar von beiden Seiten. Anders wird die Geschichte von Lukas erzählt (Lk 7, 1–10), wonach der Hauptmann jüdische Vermittler schickt und Jesus sofort bereitwillig zum Haus des Hauptmanns losgeht. In unserer Darstellung jedoch stellt Jesus eine erstaunte Rückfrage: „Soll ich selber kommen und ihn heil machen?“ (übersetzt von Fridolin Stier, ähnlich übersetzt die Basisbibel). Der griechische Originaltext lässt hier sowohl die durch Luther geprägte Übersetzung („Ich will kommen und ihn heilen“) als auch die etwas irritierende Frage zu. Hier ist Jesus also nicht derjenige, der sofort radikal Grenzen überschreitet oder Trennung überwindet. Auch der Hauptmann bietet darauf gleich die Wahrung von Distanz an („Herr, ich bin nicht würdig, dass du unter mein Dach kommst“). Und dennoch entsteht eine Verbindung zwischen den beiden, über die bestehende Distanz hinweg. Es steckt darin gleichzeitig ein Akzeptieren aktueller Verhältnisse als auch ein Überschreiten und weit darüber Hinausschauen. Ein Verstehen und Sehen, dass zwar jetzt die Gemeinschaft unter einem Dach noch nicht möglich ist, aber schon jetzt eine Heilung beginnt und zukünftig weit mehr Gemeinschaft unter einem Dach im Reich Gottes gelebt werden wird.

Das rührt an Erfahrungen im eigenen Leben: Wo sehe ich Grenzen und Distanz, die nicht einfach überwunden werden können? Hilft es, diese zu akzeptieren? Wie können Verbindungslinien über Grenzen hinweg entstehen? Ändert sich mein Blickwinkel auf diese Grenzen und Trennungen, wenn ich sie mit der Hoffnung und Vision auf künftige Gemeinschaft betrachte?

Vorstellbarer Glaube

Jesus staunt über den großen Glauben des Hauptmanns. Über großen oder kleinen Glauben sprechen Jesus und die Jünger des Öfteren miteinander. Mal rügt Jesus ihren Kleinglauben. Mal wünschen sich die Jünger größeren Glauben. Mal wird „großer Glaube“ und „kleiner Glaube“ ganz relativiert wie im Gleichnis vom Senfkorn. Interessant am Glauben des Hauptmanns ist, dass er das unverfügbare Zutrauen mit seiner ganz praktischen Vorstellungskraft verbindet. Der Hauptmann kennt sich aus, wie es mit Machtverhältnissen und Über- und Unterordnung ist. Er steht selbst in einer Hierarchie von Befehl und Gehorsam. Und diese Vorstellung überträgt er auf Jesus. Er kann sich vorstellen, dass im Machtbereich von Jesus eine Heilung möglich ist – auch über die kulturell-religiösen Grenzen und geographische Distanz hinweg.

Was genau kann ich mir vorstellen, dass Gottes Geistkraft in meinem Leben, in unserer Gesellschaft, in unserer Welt bewirkt? Und was kann ich mir nicht vorstellen und mir dies auch ehrlich eingestehen? Was kommt mir in den Sinn, wofür ich Gottes Wirkmacht erbitten und erwarten könnte?

O. Diemer

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