Hinführung

Der Predigttext zum heutigen Christfest entstammt dem Titus-Brief, einem der sog. „Pastoralbriefe“, geschrieben an einen Gemeindeleiter und seine Amtsnachfolger. Im entstehungsgeschichtlichen Kontext gab es in den jungen Gemeinden Konflikte um Glaubensinhalte. Esoterisch-gnostische Tendenzen suchten das Heil in einem Übungsweg der Erkenntnis eines allumfassenden göttlichen Prinzips, das dem Guten in der Welt und dem eigenen Selbst innewohnt und in der Abgrenzung vom Bösen freigelegt werden muss. In dieser Situation gibt der „Hirtenbrief“ eine Art Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der spezifisch christlichen und christologischen Botschaft im Gemeindeleben. Und so ist auch die heutige Perikope eine Anleitung zum Umgang mit dem Weihnachtsgeschenk der Menschwerdung Jesu Christi. Also ein Geschenk mit Übungsanweisung. Weihnachtspädagogik Gottes.

Zeit, in die Gegenwart Gottes zu kommen

Wir feiern Weihnachten, im europäischen Raum ein ritualisiertes „Fest der Liebe und der Freude“ oder eines universalen spirituellen „Guten“. Wie sieht meine Weihnachts-Sehnsucht aus? Welche inneren oder äußeren Übungen haben meine Adventszeit geprägt? Ich trete in der Stille vor Gott und bringe ihm mein Leben und mein Sein so wie es jetzt gerade ist.

Zeit des Schauens

Ich höre den Titus-Text (nach der Neuen Genfer Übersetzung): „Denn in Christus ist Gottes Gnade sichtbar geworden – die Gnade, die allen Menschen Rettung bringt. Sie erzieht uns dazu, uns von aller Gottlosigkeit und von den Begierden dieser Welt abzuwenden und, solange wir noch hier auf der Erde sind, verantwortungsbewusst zu handeln, uns nach Gottes Willen zu richten und so zu leben, dass Gott geehrt wird.“

Ein Weihnachtsgeschenk mit Gebrauchsanweisung. Weihnachtpädagogik! Wie kann ich das betrachten?

Es geht hier um mehr als um meinen persönlichen Weihnachtsfrieden. Es geht um die anderen, um alle Menschen, um die ganze Schöpfung. Stört eine Belehrung über „Gottlosigkeit“ und verantwortungsloses Handeln nicht den Weihnachtsfrieden? Will sie vielleicht sogar stören? Das Kind in der Krippe ist uns zum süßen Mittelpunkt unserer Krippenspiele geworden. Aber war das von Gott her so gedacht?

Ich betrachte die rettende Gnade Gottes in diesem Kind Jesus. Mit dem Kind betrachte ich gleichzeitig unseren Herrn Jesus Christus als im Leiden und Sterben ausgelieferten Gottes- und Menschensohn. Kann ich das? Will ich das? Oder lehnt sich dagegen etwas in mir auf? Ich sinne nach über eine Christus-Ethik, die daraus folgt. Dieser Christus-Ethik will ich auf die Spur kommen.

Zeit des Verstehens

Die Christus-Ethik gilt allen Menschen. Sie hat die Rettung aller im Blick. Es geht um alle Geschöpfe Gottes, um meine Angehörigen, um Menschen, um die ich mir Sorgen mache, aber ebenso um den Obdachlosen, den Flüchtling, den Arbeitssuchenden mit Migrationshintergrund, den politisch Andersdenkenden. Jesus Christus stellt sie hinein in meine innere und äußere Weihnachtsgesellschaft und zwar mit nicht weniger als seinem Anspruch: Sie alle sollen gerettet werden. Und an dieser Rettung soll ich mitwirken!

Die Christus-Ethik ist eine Ethik der Liebe, der Gnade und der Barmherzigkeit. Die Christusbotschaft breitete sich zu Titus’ Zeiten unter anderem dadurch aus, dass Christen sichtbar anders lebten, anders mit ihren Sklaven, mit Frauen, Verwitweten und Ausgegrenzten umgingen als es sonst üblich war. Ist es nicht einladend, den schnellen Urteilen unserer Gesellschaft, der Ungeduld mit Schwächeren, der Ignoranz gegenüber den „Loosern“ eine neue Haltung der Liebe entgegenzusetzen? Es anders zu machen? Weihnachtspädagogik!

Die Christus-Ethik ist eine Ethik der Verantwortung. Eines der schwersten politischen Themen unserer Zeit ist die Klima-Krise. Ist unser Konsum-Weihnachten nicht auch ein Teil unserer „Begierde?“ Ist „Gottlosigkeit“ nicht viel mehr als der Vorwurf, den wir zunächst wahrnehmen? Ist „Gottlosigkeit“ nicht die Diagnose über unserer (westlichen) Gesellschaft und über meinem darin so verwobenen Leben(sstil)? Eine Diagnose, die es braucht, um mich und uns zurück zu bringen zu einer Ethik der Umkehr.

Wahlversprechen sind schnell gemacht, „allein uns fehlt der Glaube!“ Wir haben Gottes Weihnachtspädagogik nötig. Wir brauchen mehr als Selbstfindung. Aber auch im noch so großen Außenengagement spüren wir, dass wir die Welt nicht retten können. Zwischen Selbstüberschätzung und Resignation, zwischen Überengagement und Rückzug brauchen wir den Gott, der sich in Gestalt Jesu Christi als kleines hilfloses Kind hineinstellt in unsere Welt und in mein Leben: „Denn Euch ist heute der Heiland geboren“. Ich kann die Welt nicht retten, ich muss sie auch nicht retten – sie ist schon gerettet, durch den, der sich „hingegeben und uns erlöst hat“ (V. 13). Aber mein Leben darf sich orientieren an diesem Retter, an Jesus Christus, dem Heiland. Und damit wird Jesus Teil meines Lebens. Und ich bin „Christ“.

Zeit des Herzens

„Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren. (Angelus Silesius)“

Es geht an Weihnachten ums Christ-Sein oder Christ-Werden. In einer Zeit der Privatisierung, Verkirchlichung, Radikalisierung oder Stigmatisierung religiöser Bekenntnisse hören wir den zweiten Teil der Perikope (nach der Neuen Genfer Übersetzung):

„Seine Gnade führt auch dazu, dass wir voll Sehnsucht auf die Erfüllung der Hoffnung warten, die unser höchstes Glück bedeutet: das Erscheinen unseres großen Gottes und Retters Jesus Christus in seiner ganzen Herrlichkeit. Er ist es ja, der sich selbst für uns hingegeben hat, um uns von einem Leben der Auflehnung gegen Gottes Ordnungen loszukaufen und von aller Schuld zu reinigen und uns auf diese Weise zu seinem Volk zu machen, zu einem Volk, das ihm allein gehört und das sich voll Eifer bemüht, Gutes zu tun.“

Jesus Christus ist das Geschenk einer göttlichen Herrlichkeit, die nicht wartet, bis wir auf einem wie auch immer gearteten Heilsweg uns selbst geholfen oder den Himmel erreicht haben, sondern die sich hineinstellt in unsere Hilflosigkeit und das Elend der Welt. Es ist die göttliche Humanität, die uns an Weihnachten anrührt, selbst „human“ zu werden, Jesus Christus, uns selbst und „alle“ Menschen so anzunehmen wie Gott es in Jesus Christus getan hat. Mein Bekenntnis zu Jesus Christus ist ein Bekenntnis mit Zukunftsdimension, getragen von der Sehnsucht nach einer geschenkten Vollkommenheit, die bereits begonnen hat, aber in ihrer ganzen Herrlichkeit noch auf mich und die Welt wartet: „Welt ging verloren, Christ ist geboren. Freue Dich, o Christenheit!“
Aber wie kann der Christus, der in mir geboren werden will, Gestalt gewinnen? Der Titus-Text und die Erinnerung an die ersten Christen laden ein, kreativ zu werden: Und wenn es nur ein Mensch in diesen Weihnachtstagen ist, dem ich etwas über das Weihnachts-Übliche hinaus zukommen lasse: ein Telefonat, einen Brief, einen Besuch oder eine Einladung, eine Bitte um Verzeihung…. Oder die Zuwendung zu einem Menschen, der üblicherweise keinen Platz in meiner Weihnachtsgesellschaft hat. Es gibt Spannendes zu erleben, wenn alte Rituale aufgebrochen und für Neues geöffnet werden. Man sagt, dass Menschen schon ohne ihr Wissen Engel beherbergt haben. Vielleicht steht auch ohne mein Wissen am Ende der Tage eine „Krippe“ in meiner Wohnung – frohe Weihnachten!

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